„Wir wissen noch nicht, wann wir zur Normalität zurückkehren können“,
diesen oder sinngemäß ähnliche Sätze, höre ich in letzter Zeit immer wieder von Politikern, Experten (gefühlt auch gern mal selbsternannt) und anderen, mehr oder weniger wichtigen Personen.
Ich denke, Normalität bedeutet für die meisten Menschen, dass sie da weitermachen können, wollen oder müssen, wo sie vor Corona* aufgehört haben.
Mich veranlasst der o. g. Satz und die Frage:
„Was meinen Sie, nehmen wir aus der Corona-Krise mit?“
die gern von Moderatoren, Reportern usw.gestellt wird, zu den folgenden Gedanken. Gedanken über Normalität, Verhalten und mehr.
Ich finde die Frage ebenso traurig wie amüsant. Es muss erst ein Virus kommen, der viele Menschen zum Tode verurteilte, damit wir überhaupt mal über unser Verhalten nachdenken. Ich finde das erschreckend und erstaunlich zugleich.
Aussagen wie:
„Wir werden auch zukünftig mehr Rücksicht auf den anderen bzw. ältere Menschen nehmen.“
„Wir werden Lebensmittel mehr schätzen.“
„Plötzlich lernt man die Nachbarn kennen.“
„Wir werden wieder mehr vor Ort produzierenmüssen.“
„Wir rücken alle näher zusammen.“
sind jetzt häufig zu hören.
Ich glaube nicht daran, dass (bis auf wenige Ausnahmen) die Menschen etwas langfristig mitnehmen. Nachfolgend beschreibe ich Situationen, die zum Nachdenken anregen können oder sollen.
Beispiel Nummer 1:
Kurz vor dem Corona*-Ausbruch war ich in einem Supermarkt einkaufen. Ich stand noch nicht an der Kasse an, konnte diese aber sehen. Ich hörte einen niesenden und hustenden Mann, der in der Kassenwarteschlange. Von einem Taschentuch oder gar der Nies- und Hustenetikette war nichts zu sehen. Mich ekelte das Verhalten an. Als er dann an der Kasse bezahlen musste, hatte er so stark geniest, dass ich den Sprühnebel aus geschätzten 10 Metern sehen konnte. Platt ausgedrückt, die Kassiererin musste sich gefühlt haben, wie unter einer Dusche. Von dem Kunden kam nichts. Keine Entschuldigung. Nichts.
Und dann kommt Corona*. In nahezu allen Medien wird den Menschen erklärt, wie man die Nies- und Hustenetikette anwendet. Trotzdem gibt es immer Personen, die diese Etikette nicht anwenden. Dazu kommen noch Ältere, die ihr gebügeltes und mehrfach benutztes Taschentuch aus der Tasche holen, damit wedeln, um noch eine unbenutzte Fläche zu finden. Ich finde es erschreckend, dass viele nicht von sich selbst darauf kommen, sich entsprechend zu benehmen und den anderen nicht zu gefährden, anzustecken und so weiter. Wieso muss man Erwachsenen dieses Verhalten erklären?
Ist das normal?
Ich bin keine Hellseherin, aber ich gehe davon aus, dass im nächsten Herbst, wenn die Erkältungs- und Grippesaison 20/21 beginnt (spätestens aber nach Corona), die Nies- und Hustenetikette bei einem nennenswerten Anteil in der Bevölkerung wieder vergessen wird.
Auch wird kaum noch einer an die Viren auf den Einkaufswagen denken, wenn er einkaufen geht. Aber der ein oder andere Naseninhalt klebt dann auch wieder am Griff.
Warum vergessen Menschen so schnell?
Ist vergessen normal?
Nur weil Corona* so medial unterstützt wird, kommen viele überhaupt erst auf die Idee, mal darüber nachzudenken, was sie so den ganzen Tag anfassen. Bei einer Erkältung und auch bei einer Grippe (Influenza) sind die Übertragungswege ähnlich. Auch diese beiden Virusinfektionen können bleibende Schäden verursachen und sogar zum Tode führen. Das wissen vielleicht nicht so viele oder sie ignorieren es einfach. Zumindest habe ich das Gefühl, dass diese „Wintererkrankungen“ für viele Menschen kein Grund sind, sich entsprechend zu verhalten.
Warum Menschen sich so verhalten, kann ich auch nicht genau sagen. Vielleicht liegt das an einer großen Portion Egoismus, an der Faulheit, an der Gleichgültigkeit oder an der Vergesslichkeit.
Wie war das noch mit „die Älteren schützen“?
Ist es normal, immer die Nies- und Hustenetikette anzuwenden? Ja. Immer und überall. Also bei Heuschnupfen, beim Verschlucken, bei Erkältungen, bei Grippe, bei Corona*, bei ...
Ist es normal, das viele Menschen erst darauf hingewiesen werden müssen, die Nies- und Hustenetikette anzuwenden, wie jetzt bei Corona*?
Leider ja. Zu wenige Menschen beschäftigen sich damit. Ausgenommen sind allerdings fast alle Personen aus dem medizinischen und pflegenden Bereich. Bei denen ist dieses Benehmen in Fleisch und Blut übergegangen.
Vielen Dank dafür.
Mein zweites Beispiel:
In Deutschland werden jedes Jahr ca. 2,8 Milliarden Heißgetränke in Einwegbechern gekauft (BMU, 2019). Eine erschreckend hohe Zahl. Viele Unternehmen bieten mittlerweile Becher zum Nachfüllen an oder nehmen Pfand für die Gefäße. Auch gibt es eine Anzahl von Verbrauchern, die ihre eigenen Becher mitbringen.
Ein wenig Geschichte vorab ...
Pappbecher mit Deckel wurden in den sechziger
Jahren des letzten Jahrhunderts durch Starbucks auf den Markt gebracht (Bendel, 2018). Der Pappbecher „ ... steht für die Produktivität und Kreativität von Berufen ebenso wie für die Urbanität, Konformität, Schnelligkeit und Schnelllebigkeit der Gesellschaft sowie den Kapitalismus mit seinem Herstellungsdrang und seiner Verschwendungssucht“ (Bendel, 2018).
Was mich interessiert ist, warum müssen viele mit einem Becher in der Hand herumlaufen? Wieso wird (in meinen Augen) so ein merkwürdiger Trend von vielen übernommen?
Die Antwort ist kurz – ich weiß es nicht!
Bereits in meinem Buch „Alltagsspitzen habe ich mich mit dem Thema beschäftigt. Mich erinnern To-go-Becher immer an den Becher, den ich als Kind hatte. Dieser hatte auch so eine kleine Öffnung zum Trinken. Ich war echt froh, als ich den nicht mehr brauchte und alleine aus echtem Porzellan oder Glas trinken konnte bzw. durfte. Mein Becher war allerdings abwaschbar und hielt Jahre.
Ich persönlich finde, dass das weder urban, noch kreativ oder sonst wie aussieht, wenn Personen in der einen Hand einen Becher und in der anderen Hand ihr Smartphone halten. Wenn ich so wichtig wäre, dann hätte ich Personal und könnte mir eine Auszeit nehmen. Butler James würde mir dann meinen Kaffee servieren. Natürlich aus meinem Lieblingsporzellan. Und natürlich aus der heimischen Kaffeemaschine oder sogar handgebrüht. Selbstverständlich ohne Kapsel und ohne Viren an den Fingern.
Die Kaffeemaschine funktioniert allerdings auch ohne Butler James. Ich habe das im wiederholten Selbsttest festgestellt und auch heimlich bei anderen beobachtet. Und man kann dann genau die Menge zubereiten, die man genießen möchte. Mir ist vielfach aufgefallen, dass halbvolle To-go-Becher weggeworfen werden. Ist ja nur Kaffee, der in fernen Ländern geerntet wird und mit dem Schiff nach Europa/Deutschland transportiert wird. Zu dem Schiffsdiesel kommen dann noch die Kosten (Material, Energie) für die Herstellung der Becher und natürlich die Kaffeemaschinen (inkl. Wasser), die 100 Prozent produzieren, für 50 Prozent Genuss der Konsumenten (vgl. UBA, 2019).
Was ist normal?
Ist es normal, nicht darüber nachzudenken?
Wie war das noch „mit Lebensmittel mehr schätzen“?
Und noch ein Thema, dass mich bewegt.
An Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und langen Wochenenden fahren viele Menschen aus Hamburg an die Nord- oder Ostsee.
Rein ins Auto, ab in den Stau, Parkplatz suchen, am Strand spazieren gehen, Kaffee trinken, ab ins Auto und dann wieder in den Stau.
Und dann kommt Corona*. Hashtags wie #StayHome oder #wirbleibenzuhause werden z. B. gepostet und getwittert.
Die Straßen sind leer. Plötzlich sieht man Menschen auf den Fußwegen, die man in den letzten 20 Jahren noch nicht gesehen hat. Am Gang vieler Fußgänger kann man aber sehr schnell feststellen, dass diese sonst die Autovariante bevorzugen. Einfach mal klimaneutral vor die Tür gehen, ist für viele Menschen scheinbar so langweilig, uninteressant und überhaupt nicht vorstellbar, dass sie es bisher kaum gemacht haben.
Und ich wette, dass sofort nach „Grenzöffnung“ wieder die Menschenmassen in Blechlawinen Richtung Meer fahren.
Ich frage mich …
- Ist das normal, mal eben ans Meer zu fahren? Meine persönliche Antwort ist ja.
- Ist das normal, mal eben mit dem Auto ans Meer fahren? Meine persönliche Antwort ist jein.
- Ist das normal, mal eben aus einem Freiheitsdrang heraus, mit dem Auto ans Meer zu fahren? Meine persönliche Antwort ist nein.
- Umweltbilanz (Benzin gegen Kaffee, Sonne)
- Stressbilanz (Stau fördert nicht den gesunden Blutdruck)
- Bewegungsbilanz (Hüftgold, Rückenschmerzen ...)
- Kostenbilanz (Geld für Benzin, teuren Kaffee usw. ist da, aber der eine Liter Milch im Supermarkt, der soll so günstig, wie möglich sein)
Ist das normal?
Und einen kleinen Nachschlag zum Reisen ...
Es gibt Menschen, die mal eben z. B. nach New York zum Christmas Shopping fliegen. Ich habe tatsächlich mal die Aussage von einem potentiellen Fluggast gehört, der sagte:
„Die Maschine fliegt doch sowieso, dann kann ich doch auch mitfliegen.“
Einen Kommentar spare ich mir hier.
Wie ist das „mit den Nachbarn“?
Das waren nur drei Verhaltensbeispiele.
Ich habe das Gefühl, dass viele eins und eins nicht zusammenbringen. Auch darüber mache ich mir seit Jahren Gedanken und habe dazu bereits einiges geschrieben.
Aber was ist denn nun normal?
Als normal gilt häufig, was die überwiegende Anzahl von Personen macht. Dabei ist es in der Regel auch egal, ob es schlecht (Umweltbilanz, Klimawandel, Nies- und Hustenetikette, Pappbecher, usw.) ist. Wer nicht normal ist, der wird z. B. gern als „verrückt“, „pervers“ oder „krank“ bezeichnet (Stehr, 2000). Darüber lohnt es ich nachzudenken.
Ich bin so froh, dass ich in vielen Bereichen nicht normal bin und ich habe auch nicht die Absicht, es irgendwann mal zu werden.
Ist das normal?
*Corona wird zum einfacheren Verständnis verwendet. Richtiger müsste es teilweise CoViD-2 und Sars-CoV-2 heißen.
Quellen:
Stehr, J. (2020). Normalität und Abweichung. Springer:
https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-531-19879-8_22 (07.04.2020)
BMU. (2019). https://www.bmu.de/faqs/coffee-to-go-becher/ (08.04.2020)
UBA. (2019).https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/mehrweg-statt-einweg-fuer-kaffee-co (08.04.2020)
Bendel, O. (2018). Coffee to go.
https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/coffee-go-99952/version-331751 (08.04.2020)